Heute ist der 14. Dezember 2015, und das ist „Russland letzte Woche“. Das Thema heute: Die Spielregeln des russischen Lebens. Tipp: Es gibt keine! Bis es welche gibt, und du sitzt im Knast.
Wie lebt es sich in einem Land, wo niemand so recht weiß, was verboten, und was erlaubt ist? Anders gefragt, wie lebt es sich in Russland? Einige werden sagen: Gar nicht so schlecht. Vom Chaos der übereilt beschlossenen Gesetze, von dem Gerangel um bürokratische Zuständigkeiten, von der allgegenwärtigen Korruption profitieren doch auch wir. Wir, hier unten, und nicht nur die da oben. Wenn wir Schmiergelder zahlen, sind es im Schnitt 173.000 Rubel (2200 Euro). Dann läuft alles. Wir wieseln uns durch. Politik interessiert uns nicht. Sie lassen uns in Ruhe. Wir sind frei.
Leider gibt es in Russland Menschen, die Freiheit immer noch nicht mit in-Ruhe-gelassen-werden gleichsetzen wollen. Ildar Dadin, ein oppositioneller Aktivist, muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil er viermal an gewaltlosen „Demonstrationen“ gegen Wladimir Putin und den Krieg in der Ukraine teilgenommen haben soll. Bei drei Aktionen war Dadin allein, es handelte sich also um „Proteste eines Einzelnen“, nach russischem Recht gar nicht genehmigungspflichtig. Die Richterin hat das nicht interessiert, ebensowenig wie die Tatsache, dass Dadin für seine „Vergehen“ bereits zu Verwaltungsstrafen verurteilt wurde. „Ne bis in idem“? Eine blasse Erinnerung. Dadin musste eben hinter Gittern. Wer hingegen auf keinen Fall hinter Gittern darf, das ist der Sohn des russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika. Tschaika Junior soll der Boss eines russlandweit operierenden Mafia-Imperiums sein, gedeckt von der Staatsanwaltschaft. Wer sich ihm in den Weg stellt, lebt nicht lange – das wollen russische Oppositionelle aufgedeckt haben. Vom gewaschenen Geld soll der Sprössling des Generalstaatsanwalts Villen in der Schweiz und ein Luxushotel in Griechenland gekauft haben.
In einem funktionierenden Staat wäre das ein Skandal. In Russland interessiert das niemanden. Macht nix, dass die Behörden in der Schweiz die Tschaika-Recherche von Alexej Nawalnys „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ nun „prüfen“ wollen. Das Wichtigste: Den Kreml juckt die Sache nicht. Der Junge ist Teil des Systems, ihm darf nichts passieren. Keine russische Behörde wird jemals die Machenschaften von Tschaika Jr. untersuchen – das ist so endgültig wie Ildar Dadins Haftstrafe. Du bist der Sohn des Generalstaatsanwalts? Mach, was du willst. So genau wollen wir das gar nicht wissen. Du bist Zeuge Jehovas aus Oblast Rostow in Südrussland? Bitteschön, hier ist deine Bewährungsstrafe für den Versuch, deine Religionsfreiheit auszuüben. Ach ja, deine Gemeinde wurde per Gerichtsbeschluss zu einer „extremistischen Organisation“ erklärt. Gern geschehen. In Moskau oder Sankt-Petersburg meint man noch, auf Vernunft hoffen zu dürfen – oft vergeblich. In der Provinz regiert totale Willkür.
Was bedeutet all das für die einfachen Russen? Kaum jemand glaubt noch daran, dass es hierzulande überhaupt so etwas wie Justiz gibt. Und wenn es einmal zu einem gerechten Verfahren kommt, freuen sich Menschenrechtler auf eine Ladung Gesprächsstoff, die für Wochen reicht. Wer in Schwierigkeiten gerät, setzt alles daran, dass sein Fall gar nicht erst vor Gericht kommt. Denn was erlaubt und was verboten ist, steht in keinem Gesetzbuch. Was also tun? Jedes Vertrauen auf Recht und Gesetz hinter sich bringen. Und: lernen – um nicht so zu enden wie Dadin. Lieber nicht zur nächsten Nawalny-Demo gehen, selbst wenn sie genehmigt wird.
„Die Menschen sind nicht beeinflussbare Idioten mit propagandagewaschenen Hirnen. Sie sind aufmerksame Schüler“, schreibt die Psychologin Marina Nowikowa-Grund. „Sie schnappen Zeichen auf, Andeutungen, kleine Winks, um zu begreifen, was verboten und was erlaubt ist – obwohl es keine kodifizierten Regeln gibt… Und wer die Zeichen im Fernsehen liest, hat das Gefühl, völlig ungeschützt zu sein.“
Was heute erlaubt ist, könnte morgen schon verboten sein. Es sei denn, du bist der Sohn des Generalstaatsanwalts.
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.