Heute ist der 12. Juli 2015 und das ist Russland, letzte Woche:
- Russische Ideologie nach der Krim-Annexion
- Russland, Land der Katastrophen
- Warum Russen der Fußball egal ist
Was treibt die russische Gesellschaft nach der Krim-Annexion an? Vor fünf Jahren redete Russland noch über Modernisierung und Innovation, heute ist vom “geistigen Band” die Rede, von der Autarkie und vom “Importersatz”. Wie konnte es dazu kommen? Der liberale Publizist Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum geht in seinem jüngsten Arbeitspapier dieser Frage nach.
Was ist überhaupt passiert? Es gab eine Zuwendung zum “russischen National-Isolationismus”, glaubt Kolesnikow. Diese Hinwendung mag überraschend sein, doch sie ist nur die sichtbare Folge von langjährigen Prozessen in der russischen Gesellschaft. Für den neuen Ideologie-Mix gibt es seit Jahren eine stetige Nachfrage. Die Sympathie für den Westen war den Russen schon in der zweiten Hälfte der 1990er verflogen. Schon damals wurde diese Abneigung in nationalistischen Begriffen artikuliert. Jetzt greift der Kreml sie gründlich auf und befördert bis in den Alltag hinein Tendenzen, welche die russische Gesellschaft immer weiter vom Westen abrücken lassen – selbst von den Werten der eigenen liberalen Verfassung. Oder glaubt noch jemand, in Russland gäbe es eine Trennung von Kirche und Staat?
Die neue Ideologie scheint bei den Russen gut anzukommen, weil sie ein alter Hut ist, glaubt Kolesnikow. Sie bezieht sich auf altbekannte Diskursfragmente, die mindestens zur zaristischen Triade “Orthodoxie, Autokratie, Volkstum” aus der Zeit der postnapoleonischen Restauration zurückreichen, wenn nicht noch viel weiter. Putin wiederholt die Krim-Annexion Katharinas der II von 1783. Wie vor mehr als 200 Jahren symbolisiert Krim das christliche Erbe – der Bezug zur griechischen Antike ist für Putin hingegen nutzlos, also reitet die Propaganda nicht darauf herum.
Die Russen wollen seit Jahren das Gefühl haben, wieder eine Großmacht zu sein. Putin gibt ihnen dieses Gefühl und stabilisiert so seine Macht. Das destilliert Kolesnikow aus den Datenreihen von Lewada-Umfragen der letzten 25 Jahre. Die Russen sind bereit, den letzten Rest ihrer Freiheit abzugeben für die Teilhabe an etwas Großem. Noch geht es gut.
Putins neuer Ideologie-Deal hat allerdings zwei Probleme, glaubt Kolesnikow. Nummer eins: Niemand weiß, wie lange isolationistische Ersatztherapie für den absackenden Wohlstand reicht. Nummer zwei: Es gibt keine Zukunftsvision. Das mittelfristige Problem der Herrschaftslegitimation wird gelöst – möglicherweise. Aber wie geht es weiter mit Russland? In welche Zukunft sollen die Russen blicken? Anders als die Sowjet-Kommunisten, die Reformer der 1990er und selbst Dmitri Medwedew mit seiner “Modernisierung” hat Putin darauf keine Antwort.
Der Star-Ökonom Wladislaw Inosemzew erklärt in der RBK-Daily Russland zum Land der Katastrophen. Grob die Hälfte – 17.000 – der ohnehin beängstigend hohen Zahl der russischen Verkehrstoten lässt sich auf mangelhaften Straßenbelag zurückführen, der Straßenbau ist eine der korruptesten Branchen, bis zu 70 Prozent der Kosten gehen für Schmiergelder drauf. Eine anständige Straße, das ist seltenes High-Tech. Wen soll es da wundern, dass die Russen das mit dem Weltraum allmählich verlernen, alle paar Wochen fällt eine Rakete vom Himmel. Ganz zu schweigen von der Luftfahrt, denn regelmäßige Pannen gibt es selbst beim neuesten Sukhoi Superjet.
In der Kohleförderung sterben jährlich fast zehn mal mehr Bergleute pro geförderte Tonne als in der EU. Die Stromnetze wurden jahrzehntelang nicht ausgebaut. In Kaliningrad wird ein neues AKW geplant, doch seinen Strom wird man nicht ins Netz kriegen, denn die Leitungen stammen noch aus dem Dritten Reich.
Medwedews Modernisierung ist gescheitert, fasst Inosemzew zusammen. Dafür haben wir jetzt die “russische Welt”, die Trägerraketen wie Feuerwerkskörper hochjagt und AKWs an Stromnetze hängen will, die Hitler bauen ließ. Das wäre doch eine schöne Zukunftsvision für das Land: Einfach den ganzen Schrott wieder ans Laufen kriegen, ohne Unfälle.
Anfang Juli wurde in russischen Medien eine erschreckende Statistik herumgereicht: 73 Prozent der Russen interessieren sich nicht für Fußball. Der Gastgeber-Nation der WM 2018 ist das Interesse für die weltweit populärste Sportart abhanden gekommen: In nur einem Jahr wuchs der Anteil der Gleichgültigen um ein Viertel. Zum Vergleich: 2014 interessierten sich mehr als 60 Prozent der Deutschen “stark” oder “sehr stark” für Fußball. Eigentlich undenkbar, dass diese Zahl große Sprünge machen könnte.
Was ist nur mit den Russen los? Mag sein, dass sie die endlosen Skandale in der Russischen Fußball-Union satt haben. Das Desinteresse könnte aber historische Ursachen haben, wie ein pseudonymer Autor in einem Blog bei sports.ru ausführt. Russland war eben nie eine Fußball-Nation – gut, jedenfalls nicht in den letzten 30 Jahren.
Zu Sowjetzeiten spielten in der Top-Liga sehr wenige russische Teams, jedenfalls wenn man die beiden Hauptstädte Moskau und Leningrad ausklammert. Die meisten Clubs eine (oder mehrere) Schubladen unterhalb von Spartak Moskau oder FC Zenit hielten eine Saison durch und verschwanden wieder. Die größten Lieblinge der Russen waren ohnehin Ukrainer: Gemessen an den Besucherzahlen war z.B. in der Spielzeit 1983 bei Gastspielen in Russland Dynamo Kiew das populärste Team, gefolgt von Spartak Moskau, Dynamo Minsk und Dynamo Tbilisi und Dynamo Moskau.
Nach dem Ende der Sowjetunion gehörten also drei der fünf beliebtesten Teams plötzlich zum Ausland, und in Russland tat sich nichts. Lokale Teams? Nach wie vor egal. In den Regionen guckt man sich nur die Gastspiele der Großen an. Die durchschnittlichen Besucherzahlen der russischen Premier-Liga sind heute schlechter als vor zwanzig Jahren. Zum Vergleich: Heute kann selbst die dritte DFB-Liga im Schnitt doppelt so viele Zuschauer vorweisen.
Braucht dieses fußballbegeisterte Russland also die WM? Darüber werde ich meditieren. Wahrlich keine Guten Nachrichten aus Russland diese Woche.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin