Heute ist der 19. Juli 2015 und das ist Russland, letzte Woche #9ⁿ:
- Es gibt keinen Rassismus in Russland, oder?
- Ein Zarenmörder soll in Moskau weg vom Stadtplan
- Kaffeesatzleserei über Russland nach Putin
In Russland herrscht ein eigentümlicher imperialer Multikulturalismus. Einerseits gibt es keinen Zwang zur so genannten Integration für einheimische Minderheiten. Wenn sie schön brav in ihren Teilrepubliken bleiben, that is. Wer nicht will, muss kein Russe sein, der Kreml redet dauernd vom “multinationalen russländischen Volk” und warnt vor der Nationalismus-Gefahr. Andererseits gehen in vielen ethnischen Teilrepubliken die Nationalsprachen flöten, und selbst an der Wolga oder in Sibirien stellen die Titularethnien allenfalls eine schwache Bevölkerungsmehrheit.
Und in Moskau? Einerseits sperrt die Stadtregierung sperrt ganze Straßenzüge, damit Zehntausende Muslime Fastenbrechen feiern können, andererseits wird gegen Kaukasier und die so genannten Gastarbeiter sehr gründlich gehetzt, auch von Oppositionellen wie Alexej Nawalny.
Der Hass betrifft eben nicht nur Zugereiste, sondern Einheimische, die nicht “slawisch” aussehen. Das beschreibt die Nowaja-Gaseta-Autorin Alexandra Garmaschapowa, die aus der sibirischen Republik Burjatien am Baikalsee stammt und in St. Peterburg aufgewachsen ist. Die Burjaten sind in einer paradoxen Lage: eine diskriminierte Minderheit jenseits der Verwaltungsgrenzen ihrer Teilrepublik muss in der Ostukraine für die “russische Welt” kämpfen – Stichwort Panzerfahrer Dorschi. In russischen Metropolen hingegen stören die Burjaten nur, meint Garmaschapowa:
“Wir haben uns daran gewöhnt, am 4. November – dem Tag der Volkseinheit und am 20. April – Hitlers Geburtstag – nicht aus dem Haus zu gehen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Polizisten unsere Pässe kontrollieren (unsere Fressen passen ihnen nicht). Vor ein paar Jahren musste sich Kuderek Soskal aus der Republik Tuwa von Polizisten anhören, sein russischer Pass sei gefälscht. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in Zentralrussland ohne “slawisches Aussehen” oft keinen Job bekommen und daran, dass Wohnungen “nur an Russen” vermietet werden. Unsere Bekannte erzählen uns, in der Schule ihrer Kind gebe es “zu viele Schwarze und Schlitzaugen, wir wollen jetzt die Schule wechseln.”
Aussagen wie diese habe ich auch schon öfters gehört. Mehrmals habe ich beobachtet, wie Polizisten an einem Metro-Ausgang asiatisch aussehende Menschen aus der Menge fischen. Keiner käme auf die Idee, mich zu kontrollieren.
Solche Intoleranz ist überall, auch im Fußball. Das hat diese Woche Emmanuel Frimpong von FK Ufa erfahren, der bei einem Spiel gegen Spartak Moskau von gegnerischen Fans als “Affe” beschimpft wurde. Daraufhin zeigte Frimpong der Spartak-Tribüne den Mittelfinger. Die Reaktionen: Der Schiedsrichter zeigt Frimpong die rote Karte, und sein Klubpräsident stellt sich hinter den Schiri. Russlands Sportminister Witali Mutko warnt gleich davor, den rassistischen Vorfall zu “skandalisieren.” Definitiv keine Rassismusproblematik.
Am 17. Juli jährte sich nicht nur der MH17-Absturz. An diesem Tag vor 97 Jahren ermordeten die Bolschewiken die Familie des letzten Zaren Nikolaus II. Einer der Zarenmörder war der Revolutionär Pjotr Wojkow.
Wenige Jahre später, da war Wojkow längst Diplomat in Warschau, ermordete ihn ein weißer Emigrant. Der Mord war ein Geschenk für die sowjetische Propaganda, die Bolschewiken beerdigten Wojkow in der Nekropole an der Kremlmauer gleich neben dem Lenin-Mausoleum. Die Sowjetmacht benannte nach ihm Fabriken, Dörfer, Kriegsschiffe und dutzende von Straßen überall in der UdSSR. In Moskau ist nach Wojkow ein Stadtbezirk und eine Metrostation benannt – die bis heute so heißt.
Whut, ich dachte, wir beziehen uns neuerdings positiv auf das Erbe der Zaren? Was hat der Name eines Zarenmörders auf dem Stadtplan von Moskau verloren? Tja, wenn man wie Juri Luschkow die von den Bolschewiken gesprengte Christ-Erlöser-Kathedrale wiederaufbauen lässt, geht dir der eine oder andere Zarenmörder eben durch die Lappen.
Na ja. Monarchisten und orthodoxe Gläubige wollen jedenfalls seit Jahren den Namen Wojkows aus dem Stadtbild tilgen. Bislang erfolglos. Jetzt könnte die Sache allerdings vorankommen: Bezirksabgeordnete des Wojkowskij-Bezirks haben sich an die Stadtregierung gewandt, die Frage nach der Umbenennung zur elektronischen Volksabstimmung zu stellen. Einer der Vorschläge: Wolkow statt Wojkow! Wolkow wie der russische Kosmonaut, der 1971 beim Wiedereintritt seines Raumschiffs in die Erdatmosphäre starb. Nach ihm ist bereits eine Tomatensorte benannt. Wieso nicht eine Metrostation? Die Russen lieben ihre Märtyrer.
Ach, nichts ist mir lieber, als zwei russisch-jüdischen Politikexperten beim Sinnieren zuzusehen. Insbesondere wenn die Nachnamen der beiden auf -ski enden! Gleb Pawlowski (sowjetischer Dissident und KGB-Informant) und Stanislaw Belkowski (immerhin ein in der UdSSR ausgebildeter Kybenetiker!) haben sich bei “Doschd” getroffen und über Russlands Zukunft geplaudert, das Protokoll dazu gibt es bei Slon. Ein sehens- bzw. lesenswertes Gespräch.
Belkowski reitet auf Nawalny rum und warnt vor dem Führerkult, besonders “in Gruppen, die sich für pro-europäisch und progressiv halten”. Er fordert eine Reform der orthodoxen Kirche, der russischen Grundinstitution – ohne sie seien weder politische noch wirtschaftliche Reformen möglich. Auch Pawlowski kritisiert die russische Opposition: die Forderung nach “gerechten Wahlen” sei nicht genug, es braucht ein konkretes Programm und entsprechende Mehrheiten… Ja, und so geht es weiter und weiter und weiter. Zweifelhafter Nutzwert, aber unterhaltsam.
Mehr will RLW auch nicht sein.
Danke für die Aufmerksamkeit!
ⁿ Im letzten Newsletter bin ich mit den Zahlen etwas durcheinander gekommen. Die letzte Ausgabe war #8, die aktuelle ist die wahre #9.
Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.
Russland, letzte Woche gibt es als Blog und Newsletter.
Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin