Heute ist der 2. August 2015 und das ist Russland, letzte Woche:
- Lebensmittelvernichtung als Propaganda
- Kremlgegner ohne Träume
- Last but not least: Ein Experte für alle Fragen
Für die Vorgänge in Russland habe ich nur eine Erklärung: Das Land ist in Wirklichkeit ein riesiges Kunstprojekt. Eine Gesellschaft mit der weltweit höchsten Scheidungsquote soll für “traditionelle Werte” empfänglich sein. In der Ukraine entdeckt man waschechte Nazis und annektiert, cause why the hell not, daraufhin eine gottvergessene Halbinsel voller potenzieller Putinwähler, die waschechte Nazis zuletzt im Mai 1944 gesehen haben.
Wenige Monate später wird diese kleine aber feine Subventionsregion from hell als russisches Nationalheiligtum gepriesen, macht ja nichts, dass vor Putins Ansprache niemand etwas davon wusste. Auf politischen Druck aus dem Westen antwortet der Kreml mit Lebensmittelsanktionen. Die treiben Lebensmittelpreise um bis zu 40 Prozent in die Höhe, was Arme besonders hart trifft. Ergibt irgendetwas davon Sinn jenseits einer bizarren Kunstperformance? Ich denke nicht.
Dann können wir ja seelenruhig Lebensmittel vernichten. Genau das wird ab dem 6. August mit Lebensmittelexporten aus der EU passieren, wenn sie auf verschlungenen Pfaden (I’m looking at you, belarussische Austern!) an die russische Grenze geraten. Wladimir Putin hat den entsprechenden Ukas bereits unterschrieben. Europäische Lebensmittel sollen “mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln” vernichtet werden, sofern Umweltgesetze dabei eingehalten werden – wie das ohne Ausbau einer ganzen Vernichtungsinfrastruktur möglich sein soll? Nächste Frage.
Die rituelle Proviantvernichtung ist natürlich eine Message für den ideologischen Binnenmarkt: Wir sind wieder wer. Vor zwanzig Jahren hatten wir nichts zu beißen, jetzt rollen wir mit einem Bulldozzer Paletten mit französischem Käse platt. Aber, aber, wir haben nach wie vor nichts zu beißen, 23 Prozent der Russen leben in Armut… Silentium!
Allen halbwegs klar denkenden Menschen in Russland ist klar, was jetzt passiert: Mehr Zuständigkeiten für den Zoll schaffen einen blühenden Schwarzmarkt für konfiszierte Lebensmittel – noch mehr Korruption. In den sozialen Medien beömmeln sich die Russen bereits. Einige wollen sich als Jamón-Ibérico-Vernichter an der Grenze bewerben, andere appellieren an die Vernunft der Beamten: Man könne doch mit konfiszierten Lebensmitteln Häuser ohne Zentralheizung beheizen.
Natürlich kommt im Kreml niemand auf die Idee, Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Das regt die Liberalen in der Kirche auf, wie den Erzpriester Alexej Uminski, der die Pläne der Regierung “wahnsinnig und hinterhältig” nannte. Es gebe im Land viele Menschen, die von den konfiszierten Lebensmitteln profitieren könnten. Diese Begründung führen bei change.org-Petition mehr als 40.000 Unterzeichner an. Sie fordern die Rücknahme der Ukase: “Wenn die Lebensmittel verzehrt werden können, wozu sie zerstören?”
Vielleicht kann der Verzehr ja als Vernichtung gelten? Ich habe jetzt einen dicken Grenzer vor meinem geistigen Auge, der an verbotener deutscher Wurst mampft oder polnische Sanktions-Äpfel hinunterwürgt. Alexej Alexejenko, der Pressesprecher der russischen Agraraufsichtsbehörde, hat dazu eine klare Meinung:
“Der Verzehr würde doch auch der Umwelt schaden. Wie viel Fäkalien wird es wohl geben, wenn man das alles isst!”
Das Zitat habe ich mir nicht ausgedacht.
RLW-Stammleser wissen, dass die eigentümliche Zukunftslosigkeit Russlands mich nicht loslässt. Wo steht dieses Land in 20 Jahren, sollte die Nachfrage nach verflüssigten Dinosaurierkadavern weiter sinken? Gibt es Russland in 50 Jahren überhaupt noch auf der politischen Weltkarte? Was soll diese Gesellschaft zusammenhalten? Wladimir Putin scheint das nicht zu interessieren, er besetzt lieber fremdes Hoheitsgebiet, um kurzfristig seine Ratings zu pushen. Sein Zukunftsbild ist die fortgesetzte Gegenwart. Putin-Russland, solange Putin noch kann. Verständlich, dass der Kreml-Herrscher keine Visionen nötig hat, doch leider tut es die russische Opposition ihm gleich, meint der Soziologe Alexej Roschin.
“Niemand schafft es, sich etwas anderes vorzustellen als eine neuerliche Reinkarnation der ‘himmlischen UdSSR’, eine Art Kommunismus aus sowjetischen Schulbüchern.”
Keine leichte Aufgabe, eine Zukunftsvision in einem Land zu formulieren, das sich nach der Vergangenheit sehnt: vielleicht weniger nach imperialer Größe, sondern eher nach kostenlosen Kindergartenplätzen und allgegenwärtiger Staatsmedizin, durchaus verständlich nach 25 Jahren sukzessive scheiternder Gesundheitsreformen und gründlicher homo-homini-lupus-est-isierung aller Lebensbereiche. Ein Blick in die Vergangenheit, meint Roschin. Wenn’s nach mir ginge, könnte das ruhig auch die Zukunft sein, aber ich bin ja auch kein russischer Oppositioneller. Die liberale Intelligenzija könne sich kaum für die Resowjetisierung des Sozialstaats einsetzen ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Nicht nur, weil es unter ihnen viele eingefleischte Ayn-Rand-Libertäre gibt. Die Strategie ist nämlich schon vergeben: Putins “Geeintes Russland” pflege ein gemäßigtes back to USSR (während Putin weitere Privatisierung der Medizin will, haha). Eine radikale und sofortige Rückkehr zu den sozialen Rechten der Sowjetunion wollen die Kommunisten, und “Gerechtes Russland” fahre einen Kurs irgendwo zwischen KP und “Geeintes Russland” – geschenkt, dass dabei nichts herauskommt, schließlich wird Politik nicht in der Duma gemacht.
Die russischen Oppositionellen müssen dem Land also etwas anderes bieten als eine sozialrechtliche Zeitreise oder mittelfristig abflauende imperiale Begeisterung. Aber was? Und wer könnte diese Zukunftsvision formulieren? Nicht Alexej Nawalny:
“Es ist niemand da, der auf Russisch eine Rede halten könnte, die mit ‘I have a dream’ beginnt. Nawalny hat zweifelsohne politische Instinkte, er ist ein guter Redner mit Sinn für Humor, aber kein Visionär … Er ist ein Jurist, der sich mit jungen Juristen umgibt. Wenn man mit den Massen reden will, braucht man Zukunftsvisionen und keine juristischen Formeln.”
Mein Tipp für Nawalny: Russische Geschichte vor dem Aufstiegs Moskaus ausgraben und sich positiv darauf beziehen. Alle hassen Moskau nämlich! Mittelalterliche russische Republiken von Pskow und Nowgorod verherrlichen, Demokratie zum russischsten aller Werte umdeklarieren. Historisch gute Beziehungen zu Europa betonen (mal wieder Pskow und Nowgorod, übrigens Hansestädte). Echte Föderalisierung, dann noch etwas nachwürzen mit Moskauhass – da könnte es Probleme geben, kommst doch selber aus Moskau, Freundchen. Einen Versuch wär’s wert!
Tja, weil wir hier schon heillos überzogen haben, gibt’s jetzt ganz kurz was zum Stand der Qualitätsmedien™ in Russland: Das Blog “The Insider” hat in der kremlnahen “Iswestija” einen Universalexperten entdeckt, zwar einen einheimischen, aber manchmal reicht auch so einer aus.
Da lieferte also ein Kerl namens Edward Tschesnokow monatelang die gewünschten Positionen: als Experte für Humanwissenschaften, als patriotischer Dichter, Journalist, Kunstkritiker, Bildungsexperte, Literaturkritiker und schließlich als “Experte für Massenkommunikation”. Der letzte Punkt trifft zu. Eine Stellungnahme von “Iswestija” dazu? Vielleicht in einer besseren Welt.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin