RLW #15: Heilige Geschichtslügen

Heute ist der 30. August 2015 und das ist Russland letzte Woche, ein eklektischer Rückblick auf die Vorgänge im östlichen Riesenreich. Diesmal besteht der Rückblick hauptsächlich aus einem Rant über unseren geehrten Kulturminister. Geht nicht anders.


Wahrscheinlich wäre Wladimir Medinsky am liebsten ein großer Hollywood-Geschichtenerzähler geworden. Moses, Cäsar, Cleopatra. Millionenschwere Sets, tausende Statisten! Doch, ach, geboren im falschen Land! Stattdessen muss sich der 45-jährige Ex-PR-Mann und altgedienter Zigaretten-und-Alkohol-Lobbyist mit einer anderen Geschichte begnügen: der russischen. Naja, auch viel Stoff!

Doch an Fakten, nüchternen Interpretationen oder – Gott bewahre! – so etwas wie Forschungsstand hat der oberste Historiker im Range des Kulturministers kein Interesse. Allein die Mythen sind entscheidend, Russlands herrliche Vergangenheit, von Feinden in den Schmutz gezogen. Reinwaschen, neu erzählen, darum geht’s. Das gibt der promovierte Historiker offen zu. Was ist in Russland noch eine Promotion in Geschichte wert? Nicht viel: Wer sein Land und sein Volk liebe, werde schon “positive Geschichte” schreiben, meint Medinsky. Wichtig seien dabei nicht Tatsachen, sondern nur “Massenpropaganda”.

In einem frischen Interview mit der Regierungszeitung “Rossijskaja gaseta”– naja, “Interview” setzen wir wie üblich bei diesem Medium lieber in Anführungsstriche – bringt Medinsky sein Verhältnis zu Geschichte und Gedenken auf eine anschauliche Formel:

“Die epischen Sowjethelden muss man behandeln, wie man in der Kirche Heilige behandelt.”

Das entgegnete Medinsky auf die Frage, wie mit den sowjetischen Heldenmythen aus dem Zweiten Weltkrieg zu verfahren ist – sie bröckeln seit Jahrzehnten, für Forscher ist seit Langem klar, dass die massenhaft verbreitete Geschichten vom Heldentod für das Vaterland selten mehr sind als starke Propaganda-Kunststücke. Langsam kommen auch die einfachen Russen dahinter.

Ein gutes Beispiel – im Moment in Russland stark diskutiert – ist die beliebte Geschichte von den 28. Verteidigern Moskaus, die bis zum letzten Mann eine deutsche Panzeroffensive abwehrten – egal, dass die betroffene Einheit mehr als hundert Mann zählte, dass von den angeblichen Märtyrern ein halbes Dutzend den Krieg überlebte, dass einige von ihnen um Zeitpunkt ihres angeblichen Heldentods gar nicht erst einberufen waren, und so weiter und so weiter.

Oh, eine Petitesse ist mir fast entfallen: Einer der Helden kollaborierte mit den Deutschen und wanderte dafür nach dem Krieg für 15 Jahre ins Lager. Eine schöne Geschichte. Die dann aufflog und zu einer internen Untersuchung des ganzen Heldenepos durch die Militärstaatsanwaltschaft der Roten Armee führte, so richtig schön mit einem Bericht, an Josef Stalin adressiert. Das war 1948.

Natürlich blieb der Bericht geheim, die Sowjets schlachteten die perfekte Märtyrer-Story weiterhin für ihre Heldentod-fürs-Vaterland-Propaganda aus: Denkmäler, Schulbücher, Kinder, die schwören, die Ehre der 28 hochzuhalten, etc. Die Geschichte war zu wirklich schön, um sich plötzlich als eine Erfindung herauszustellen. Auf der Glasnost-Welle der späten Gorbatschow-Zeit hat die sowjetische Militärstaatsanwaltschaft den “last stand” der 28 Helden zur Sicherheit noch einmal debunked und unmissverständlich zu einer Fiktion erklärt, diesmal öffentlich.

Und jetzt kommt dieser Genosse Medinsky an und sagt uns: Betet eine Lüge an! Nehmt etwas als wahr hin, was höchste offizielle Stellen erst im Geheimen und später in aller Öffentlichkeit eine Erfindung nannten! Und das im Zeitalter von Google! Heilige! Helden! Weil unser Russland positive Mythen braucht!

Hoffentlich lebt Medinsky lange genug. Ich wünsche dem Mann wirklich, dass er in die russische Geschichte eingeht. Als Witzfigur.


Was sonst? Der Ökonom Andrej Mowtschan erklärt in einem nicht gerade lebensbejahenden Beitrag, warum fast 60 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung am Öltropf hängen: Da wären die Warenimporte, die Russland zum großen Teil aus den Öleinnahmen bezahlt und die riesigen Staatsausgaben, die aus dem selben Topf bezahlt werden. Der Erfolg der russischen Wirtschaft hängt weder seiner Wirtschaftspolitik ab, noch von den Sanktionen, noch von geopolitischen Spielereien – nur der Ölpreis zählt, meint Mowtschan. Amen, brother.

Bei Yod gibt es einen deprimierenden Überblick über alle Ehrungen, die Ramsan Kadyrow erhalten hat. Der Tschetschenenherrscher und selbsterklärter “treuester Soldat” Putins bringt’s mit 39 Jahren auf 62 Orden.

Guuuute Laune.


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

Russland letzte Woche gibt es als Blog und Newsletter.

Bis nächste Woche!

Pavel Lokshin