Heute ist der 1. November 2015, und das ist „Russland letzte Woche“. Nach der Katastrophe im Sinai ist mir nicht nach der üblichen Sarkasmus-Mischung zumute.
Wer in Russland jenseits der großen Flugstrecken unterwegs war, kennt diese Angst: Du steigst in die enge Tupolew–134, die mindestens dreißig Jahre auf dem Buckel hat, drinnen herrscht tiefste Sowjetunion, außer im Cockpit: kleine Ikonen, angeklebt über den analogen Anzeigetafeln. Im Passagierraum dann Einbaulautsprecher fürs Auto, montiert an der Decke. Blaupunkt! Die Airline kennt ihre Prioritäten. Die Flugbegleiterin verspricht sich ein erstes Mal, dann ein zweites, schon fragst du dich, wie nüchtern die Piloten sind. Dann verteilen die Stewardessen die traditionellen Lutschbonbons. Abheben mit Gottes Hilfe. Und wieder landen, so Gott es will.
Der Absturz der Kogalymavia-Airbus in Ägypten war der Opferzahl nach der schlimmste Flugzeugabsturz der russischen Geschichte – noch schlimmer als der Tod 224 Menschen ist die Tatsache, in Russland Flugsicherheit dem lieben Gott überlassen wird. Die einfachen Russen nehmen Flugzeugabstürze hin, als handelte es sich um unkontrollierbare Naturphänomene. Die Angehörigen der Opfer haben’s gelernt: Sie protestieren kaum und verschwinden ein paar Wochen nach dem Unglück aus den Medien. Vor Gericht ziehen? Bei dieser Justiz? Aufgeben, aufgeben. Vielleicht ändert sich jetzt etwas: Bei der Solidaritätsaktion für die Opfer versammelten sich im Zentrum von Sankt-Petersburg tausende Menschen.
Lenta.ru hat eine Liste von Flugzeugabstürzen russischer Airlines seit 2001 aufgestellt. Natürlich, es gab den Lotsenfehler von Überlingen und zwei Anschläge tschetschenischer Selbstmordattentäter. Neun der zwölf Abstürze seit 2001 gehen auf schlechte Wartung und Pilotenfehler zurück (wie die spektakuläre Bremsung kurz vorm Abheben, die 2011 ein ganzes Eishockeyteam ins Jenseits beförderte).
Laut dem jüngsten Report von IATA ist Fliegen in Russland vier mal so gefährlich wie im weltweiten Durchschnitt. Das Problem sind freilich nicht große Airlines wie Aeroflot oder Transaero, Gott habe sie selig, sondern immer wieder kleinere Firmen, die auf Pilotenzertifizierung und Flugsicherheit pfeifen – und korrupte Aufsichtsbehörden, die sie gewähren lassen. Kogalymavia hat nur neun… acht Maschinen und ein beeindruckendes track record von tödlichen Unfällen und Beinahe-Unfällen. „Unregelmäßigkeiten“ wurden jedes mal erst nach den Abstürzen aufgedeckt. Wahrscheinlich wird die Mini-Fluggesellschaft diesmal dichtgemacht – doch was nützt es noch? Russlands Fluch: Immer muss etwas passieren, damit das „Problem“ in einer fernsehtauglichen Hauruckaktion „gelöst“ wird. Frei nach dem russischen Sprichwort: Ehe es donnert, bekreuzigt sich der Bauer nicht.
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.