Heute ist der 8. November 2015, und das ist „Russland letzte Woche“. Die Themen: Futurologie mit belarussischem Einschlag, Geschichtsverdrossenheit der Russen und Wifi in Kirchen. Ja, Sie haben richtig gelesen.
Russlands Zukunft liegt in Belarus, glaubt Maxim Gorjunow. Nein, Russland soll natürlich nicht auf die Größe eines beschaulichen osteuropäischen Agrarlandes schrumpfen. Es geht um etwas anderes. Die gebildeten Moskauer liegen falsch, wenn sie die so genannte letzte Diktatur Europas für ein „Reservat des sowjetischen Lebens“ halten – sauber, leer und so heiter wie eine Amtsstube. Die Minsker Intellektuellen kommen der Sache näher, schreibt Gorjunow: In Belarus werden Regierungsmethoden erprobt, die dann mit leichter Verzögerung in Moskau zum Einsatz kommen.
Proteste gegen Wahlfälschungen? Erst in Minsk brutal niedergeschlagen, dann in Moskau. Leben unter Sanktionen? Lukaschenko kann ein Lied davon singen. Hohe Staatsbeamte dürfen nicht nach Europa? Old news in Minsk. Heute gewöhnt sich die russische Opposition eine Lebensweise an, die in Belarus seit Jahren zur Normalität gehört: Eine Demonstration in der Innenstadt wird zur Mutprobe. Ein oppositioneller Abgeordneter darf nicht in einer regionalen Duma sitzen bleiben – raus mit ihm. Gorjunow fasst es so zusammen:
„Belarus ist nicht die sowjetische Vergangenheit Russlands. Belarus ist Russlands strahlende souveräne Zukunft. Man muß nach Minsk fliegen, um Moskau des Jahres 2026 oder 2037 zu sehen.
Gar keine schlechte Perspektive für Russland. Das Jahr 2037 könnte ja auch wie 1937 aussehen.
Wo wir schon beim Thema Geschichte sind: Hier ist ein lesenswertes, langes Interview mit dem Historiker Kirill Kobrin über den Niedergang des historischen Wissens in Russland. Sowohl Wissenschaftler als auch einfache Russen sind stecken fest zwischen Staat und Buchmarkt. Während der Kreml russische Geschichte zu einem nationalen Unfehlbarkeitsnarrativ umgestaltet – wir haben immer Recht, unsere Helden sind heilig – fluten dubiose Verlage die Buchläden mit immer neuen Enthüllungswerken über Stalins letzte Tage und die wahren Drahtzieher des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Natürlich steht zumeist Stuss drin, gekauft werden diese Bücher trotzdem, und der Kreml profitiert sogar davon: Solange russische Unfehlbarkeit Dogma bleibt, gibt es keine Beanstandungen.
Was hilft dagegen? Keine Kreuzzüge gegen Kremls Geschichtspolitik, und auch keine großen, massentauglich erzählten Narrative, sagt Kobrin. Stattdessen:
„Es lohnt sich, das öffentliche Interesse für die eigene Vergangenheit wiederaufleben zu lassen – oder es jedenfalls zu versuchen … Klein angefangen: die Geschichte der eigenen Familie, einer kleinen Stadt. Da haben wir eine richtige Lücke. Dann könnte man zur Geschichte des Staates und großer Ideen übergehen. Es ist doch so: Hinter all dem Gerede über Respekt für die eigene Geschichte steckt ein absolutes Desinteresse an der eigenen Vergangenheit, an konkreten Menschen, Familienmitgliedern oder sozialen Gruppen.“
Also Geschichtswerkstätten und grabe-wo-du-stehst in Russland. Ich will hoffen, dass der FSB solche Ideen nicht gleich auf Machenschaften ausländischer Geheimdienste zurückführt. Dann hat Russland vielleicht eine Chance, seine Geschichte wiederzuentdecken.
Meine Güte! Ist das etwa eine Gute Nachricht aus Russland? Wird auch Zeit. In Moskaus Kirchen gibt es bald kostenlosen Internetzugang über Wifi. Gründlich gefiltert zwar, aber: Wifi in Kirchen. Wifi in Kirchen! Und auch in Moscheen und Synagogen. Kurz beten und dann Mails abrufen! Snapchat-Selfies vor der Ikonostase. Kerzen anzünden und twittern. Besser geht’s nicht.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.
Russland letzte Woche gibt es als Blog und Newsletter.
Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.