Heute ist der 14. November 2015, und das ist „Russland letzte Woche“ – mal wieder monothematisch, aber es muss sein.
Liebe Leser! Heute begeben wir uns aus dem bekannten traurigen Anlass auf eine spannende Reise. Wir besuchen die Gedankenwelt eines Meinungsautors bei einem regierungstreuen russischen Medium. Ganz ohne Visum und Ausreisegenehmigung. Was erwartet uns dort? Gut, könnte man sagen, Russland und der Westen haben ihre Meinungsverschiedenheiten, aber jetzt wäre doch der Moment für einfache, ehrliche Solidarität! Für Mitgefühl, für Trauer. Schön wär’s. Der Fernsehpropagandist Dmitri Kisseljow hält sich diesmal zwar rhetorisch zurück, dafür regiert in den russischen Kommentarspalten kaum verhüllte Häme.
Ich könnte jeden Kommentar nehmen, den die kremltreue „Iswestija“ auf die Homepage geklatscht hat, der Inhalt ist identisch: ha, Frankreich ist selber schuld! Und die Flüchtlinge! Die Auflösung kennen wir also schon. Aber wie funktioniert die Logik solcher Kommentare? Für die schnelle Analyse besser geeignet als die „Iswestija“-Beiträge: eine durchaus massentaugliche Kolumne im Massenblatt „Komsomolskaja Prawda“.
Jegor Holmogorow legt los mit einem Schulterklopfer. Gleich zu Beginn seines „Die brutale Französisch-Stunde“ betitelten Textes hebt der regelmäßige nationalistische Kolumnist der „Iswestija“ Russlands vermeintliche Alleinstellung hervor – “wie kein anderes Land versteht Russland, was jetzt mit den Franzosen geschieht. Wie kein anderes!“. Wegen der „Nord-Ost“-Geiselnahme und des Kriegs gegen den tschetschenischen Terror natürlich – als hätte es die Anschläge von London und Madrid nicht gegeben, als hätte nicht 9/11 den „Krieg gegen den Terror“ ausgelöst. Als wäre Russland eine Art Israel XXL, dem alltäglichen Terror ausgeliefert – immer Weltmeister, auch im Opfer sein.
Wie kein anderes Land versteht Russland! Trotz der fehlenden Entschuldigung für die Charlie-Hebdo-Karikaturen zum Metrojet-Absturz. “Niemand hat sich dafür entschuldigt“! Trotzdem: “ehrliches Mitgefühl“. Ach? Der Autor hätte natürlich gern Hollandes Kniefall in Moskau gesehen – so weit, so alltäglich, dieses Herumreiten auf Kleinigkeiten. Empörung und Hass gegen den Westen müssen die Trauer über die eigenen Toten übertönen. Jetzt wäre genau der richtige Moment für Schadenfreude, und da kommt sie auch: „Frankreich bezahlt jetzt seine offenen Rechnungen. Alle Rechnungen!“
„Das ist für Syrien!“, soll einer der Paris-Attentäter geschrien haben, sagt Holmogorow. Gemeint hat der Mann nämlich nicht den französischen Kampf gegen den IS, sondern die Teilung des so genannten „geeinten Syriens“ – einer ehemaligen osmanischen Provinz – durch Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. „Hätten die Franzosen ein geeintes Syrien erhalten, oder zumindest gescheit aufgeteilt, gäbe es jetzt keinen IS.“ Das steht tatsächlich da. Frankreich, schon immer schuldig! Jedenfalls nie ganz unschuldig. Historische Unschuld ist nur Russland vorbehalten.
Natürlich muss Holmogorow jetzt auf den Ersten Weltkrieg zurückgreifen, denn Frankreichs Kampf gegen den IS zählt ja nicht – weil Sarkozy und Hollande „für die Geburt des Islamischen Staates unmittelbar verantwortlich sind“ – und auch für die „Ausbreitung des IS in Europa“ und die „brandgefährlichen Flüchtlingsströme“. Sie haben sich zusammen mit den USA im Nahen Osten wie ein „Elefant im Porzellanladen“ aufgeführt. Den wahren Kampf führt nur Russland.
Was hätte Frankreich tun sollen, bereits nach dem Charlie-Hebdo-Attentat? „Die Migrationspolitik und die Grenzkontrollen verschärfen, richtig anfangen, Terrororganisationen weltweit und den islamistischen Untergrund in Frankreich selbst zu bekämpfen.“ Die Annahme, dass Migration zu Terroranschlägen führt, bedarf beim russischen Publikum keiner weiteren Erklärung. Das Feindseligkeit gegenüber den zentralasiatischen Gastarbeitern im eigenen Land – und gegenüber einheimischen Kaukasiern – darf medial nicht artikuliert werden, also wird sie nach Frankreich abgeschoben, das laut Holmogorow eine „Orgie der Toleranz“ feiere.
Die Rettung der Grande Nation heißt Le Pen. Die Franzosen hätten „2012 für Marine Le Pen stimmen sollen. Stattdessen wählten sie Hollande und die Parteien der toleranten Heuchler… Werden die Franzosen nun zeigen, dass sie bereit sind, all dem ein Ende zu setzen? Oder werden sie weiterhin für Freiheit für Terroristen und Gleichheit und Brüderlichkeit mit den Banditen stimmen?“ Holmogorow hofft, das „wunderbare Frankreich“ möge endlich „seine Jeanne d’Arc“ finden. Doch das sei unwahrscheinlich. Russland dürfe nicht auf die Europäer zählen – und müsse sich „selbst verteidigen.“ Aber mit Franzosen, schreibt Holmogorow, „haben wir Mitgefühl. Haltet durch.“
Welch ein Glück, dass der Durchschnittsfranzose kein Russisch kann.
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.