RLW #28: Türkei-Shitstorm

Heute ist der 29. November 2015, und das ist „Russland letzte Woche“. Thema heute, aus Gründen: Die anti-türkische Welle, die im Moment durch Russland rollt.


Taxifahrer, die wegen eines Parkplatzes handgreiflich werden, Männer, die einander anschreien, weil der eine die Frau des Anderen im Vorbeigehen anrempelte. In den letzten Tagen habe ich in Moskau so viele aggressive Menschen erlebt wie selten zuvor. Was ist nur los mit den sonst so indifferenten Moskauern?

Meine zweifelhafte ad-hoc-Theorie: Der brodelnde anti-türkische Shitstorm schwappt aus dem Fernsehen in den Alltag über. Und weil es nicht genug türkische Konsulate und Imbissbuden gibt, hassen die Russen einander. Ich sage ja, zweifelhafte Theorie. Die gestiegene Alltags-Aggressivität müsste ja bedeuten, die vorgeblichen Ausbrüche des Volkszorns wie der Eier-und-Farbbeutel-Angriff auf die türkische Botschaft in Moskau wären authentisch gewesen, und keine grobschlächtige Auftragsarbeit von angeheuerten pro-Kreml-Clowns – ich tendiere eher zum Letzteren.

Was die Russen über das ganze Türkei-Ding denken, kann man im Moment nur erahnen. Ergebnisse von Meinungsumfragen liegen bislang nicht vor (und so genau wüssten wir eh nicht, was sie bedeuten sollen). Ganz klar allerdings, welche Meinung der Kreml sich wünscht – gemessen an der Vielfalt der teils unfreiwillig komischen „patriotischen“ Positionen in den russischen Medien. Nur ein paar Beispiele:

Der Duma-Populist Wladimir Schirinowski – langjähriger Chef der kremlhörigen „Liberal-demokratischen Partei“ LDPR – sieht in der Türkei etwa Russlands „Feind Nummer eins“. Erdogan solle bloß aufpassen, „eine dumme Aktion, und das Land ist weg“, zerstört von einer russischen Atomrakete, die einen Tsunami auslöst. Schirinowski phantasiert von einer „15 Meter hohen Welle“, die Istanbul unter sich begräbt, also „9 Millionen Menschen“, erinnert uns der Rechtspopulist.

Die Schüler des Gymnasiums №3 in der hübschen Wolga-Stadt Saratow träumen ebenfalls von Kriegsgerät. Sie wollen den Russischen Luft- und Weltraumstreitkräften einen neuen Su–24-Bomber schenken. Der Spendenlauf wird wohl ziemlich lang. Technisch inzwischen nicht gerade Top-Fabrikat, kostet der Sukhoi dennoch etwa 5,5 Millionen Dollar. Natürlich soll die Sammelaktion den „Großen Vaterländischen Krieg“ erinnern, schließlich – glaubt man der patriotischen Geschichtsschreibung – haben einfache Kolchosniks aus Saratow damals zwei Flugzeuge für Luftstreitkräfte der Roten Armee mit Spenden finanziert. Damals wie heute, nur das Beste für die Jungs mit dem roten Stern. Und dieser Erdogan? Ganz klar, ein Türken-Hitler. Gegen den führen wir schließlich auch Krieg… obwohl.

Manchmal schlägt patriotische Wut auch in Selbstkritik um, allerdings von einer seltsamen Sorte: Michail Turezki denkt über einen Namenswechsel nach. Der Begründer des erfolgreichen russischen-jüdischen „Turezki-Chors“ (Beispiel-Video) findet seinen Namen problematisch – obwohl er nicht auf die Türkei zurückgehe, sondern auf den Geburtsort seiner Ahnen, „das Örtchen Turetz in Polen“. Nun sei vielleicht dennoch der richtige Moment gekommen, zumindest für seinen Chor einen neuen Namen zu überlegen, sagt Turezki. Das Ganze sei schließlich keine Geschlechtsumwandlung (interessanter Einwurf!).

Mit der LDPR anfangen, mit der LDPR aufhören: Die Russen sollen auf Döner verzichten, sagt der Duma-Abgeordnete Sergej Furgal. Das Döner-Fleisch aus der Türkei sei „äußerst unvorteilhaft für den Organismus.“

All das ist erst der Anfang, schreibt der Nowaja-Gaseta-Reporter Pawel Kanygin in einem Facebook-Beitrag. Es gibt noch so viele schöne Ideen! Konstantinopel statt Istanbul, ein Verein, der Byzanz neu gründen will. Oder wie wär’s damit: Die Wolkenkratzer in Moscow City abreißen, schließlich haben sie Türken gebaut. Stattdessen eine Kirche. Alle Lehnwörter aus dem Türkischen verbieten (also ziemlich viele Alltagswörter!) Wer weiß, was noch kommt.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.