RLW #36: Russische Probleme, russische Lösungen

Heute ist der 25. Januar 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema heute: Vermeidbare Probleme, und wie man sie nicht löst.


Wenn Sie die richtige Optik haben, liebe Leserinnen und Leser, können Sie jedes Ereignis in Russland zu einem Sinnbild für dieses Land umfunktionieren. Natürlich dürfen Sie dabei nicht übertreiben, denn ohne rohe Gewalt können Sie das Russland-Sinnbild nicht immer freilegen. Aber in diesem Fall springt es mir (und Ihnen) geradezu entgegen:

In der Tretjakowskaja Galereja läuft im Moment eine Ausstellung des russischen Jugendstilmalers Walentin Serow. Natürlich anlässlich des 150. Geburtstags des großen, wenn auch nicht des spannendsten vaterländischen Künstlers. Eine der populärsten russischen Ausstellungen aller Zeiten mit mehr als 400.000 Besuchern. So viel Interesse für Kunst, großartig. Und hier wird es interessant: Der Ansturm in der letzten Ausstellungswoche war so groß, dass die Besucher die Tür zum Foyer der Galerie aufgebrochen haben. Warum randalierten die Kunstfreunde? War die Gruppendynamik schuld? Waren sie besoffen? Oder wollten sie ihre russische Seele so richtig baumeln lassen?

Nun, der Grund ist einfach: Sie mussten stundenlang in einer teils mehrere hundert Meter langen Schlange bei minus 14 Grad Celsius anstehen. Richtig! In der Tretjakowka können Sie nicht einfach so ins Foyer. Mindestens eine kleine Schlange gibt es immer, nämlich vor den beiden gloriosen Metalldetektoren, bedient von freundlichen, aber stets überforderten Sicherheitsdamen. Typisch russisches Sicherheitstheater. Selbst wenn Sie das Ticket elektronisch gekauft und im Voraus bezahlt haben, müssen Sie anstehen. In einer zweiten Schlange. Zwei Sicherheitsleute, zwei Metalldetektoren, hunderte Menschen draußen in der Kälte.

Wie reagiert die Galerie auf diesen Skandal? Sehr russisch. Sie lässt für die Wartenden am Tag darauf eine Feldküche aufstellen, die Tee serviert. Und sie beendet den Vorverkauf von Ausstellungskarten übers Internet. Tee aus der Feldküche, kein Vorverkauf, nach wie vor draußen warten bei zweistelligen Minusgraden, als wär’s die normalste Sache der Welt. Der Pöbel soll frieren. Es ist Russland. Etwas sagt mir, dass sich bis zum nächsten Winter am Zugangskonzept der Tretjakowka nichts ändern wird. Die Lösung muss russisch bleiben.

Auch die Stadtplanung ist eine Domäne von wahrhaft russischen Lösungen: Es gibt wieder einmal schlechte Nachrichten für das Moskauer Architekturerbe. Diesmal haben’s die emsigen Stadterneuerer nicht auf Zarenzeit-Bauten oder einen legendären Funkturm abgesehen, sondern auf ein kleines Schmuckstück der konstruktivistischen Baukunst – die Arbeitersiedlung „Pogodinskaja“ knapp außerhalb des Gartenrings.

Begehrte Innenstadt-Location! Die Stadtregierung genehmigte bereits den Abriß, praktischerweise stand die Siedlung nie unter Denkmalschutz. Also weg mit diesem konstruktivistischen Bauschrott, errichtet 1927–1929. Traurige Luxus-Wohnblocks drauf, errichtet 2016 ff. Sie werden ungefähr so aussehen. Nein, man kann die Konstruktivismus-Bauten nicht als Luxuswohnungen verkaufen! Sie müssen natürlich weg. Die reichen Russen wollen doch viel Platz für ihre riesigen geschmacklosen Möbel. Und Parkplätze für den Benz und den Cayenne.

Ach Russland! Was geht vor in diesem Land der verschwendeten Potenziale, in diesem Land, das bei Problemen von Notlösung zu Notlösung torkelt und hässliche Neubauten lieber hat als lebendige Architekturgeschichte? Wo bleibt die Aufregung? Und wie kann es sein, dass die Russen all das tolerieren? Vielleicht weil die vom Kreml gesteuerte Medienöffentlichkeit praktisch keine gemeinsame Sprache mehr zulässt. Die Möglichkeit, sich über Russlands Gegenwart und Zukunft zu verständigen, droht ganz verloren zu gehen, befürchtet Maxim Trudoljubow.

Die staatlichen Medien produzieren immer mehr eigene Wahrheiten, das heißt, Wahrheiten, die nur in Russland für solche gehalten werden – wie die „Wahrheit“, dass Russland nichts mit dem MH17-Abschuss zu tun hatte, oder dass die russische Luftwaffe in Syrien keine Zivilisten umbringt. Ach ja, und Litwinenko hat sich selbst vergiftet – sagte Kisseljow in seinem Wochenrückblick bei „Rossija“. Die Staatsmacht hat immer recht. An der Medienfront darf der Kreml nicht nachgeben, denn die Aufrechterhaltung dieser „Wahrheiten“ sei zu einer Schlüsselaufgabe der eigenen Sicherheit geworden, sagt Trudoljubow.

„Der Raum einer gemeinsamen Sprache schrumpft. Bald bekommen die Wörter auf den beiden Seiten des Lügenvorhangs gänzlich unterschiedliche Bedeutungen. Irgendwann werden zwei Russisch-Muttersprachler einander nicht mehr verstehen.

Aber, aber, Herr Trudoljubow! Es ist doch schon soweit, seit bald zwei Jahren!

Ich war schon mal in so einer Situation. Es ist schon längst passiert.

Dem kann ich leider nichts hinzufügen. Na dann, auf eine neue, bessere Woche!


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

Russland letzte Woche gibt es als Blog und Newsletter.

Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.