Heute ist der 29. Februar 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: selbsterklärend.
Am Samstag jährte sich die Ermordung Boris Nemzows zum ersten Mal. Zum Stand der Aufklärung sei nur gesagt: Der Auftraggeber ist laut Ermittlern nicht etwa ein enger Mitstreiter von Ramsan Kadyrow, Gott bewahre. Sondern sein Fahrer! Sachen gibt’s. Wer mehr erfahren möchte, findet hier eine Sammlung von kontrollierten FSB-Leaks eine Nowaja-Gaseta-Recherche zum Thema in deutscher Übersetzung. Aber zurück zum Marsch all jener, die nicht an die Fahrer-Theorie des russischen Ermittlungskommitees glauben: Nach unabhängiger Zählung versammelten sich in Moskau rund 20.000 Menschen zum Gedenkmarsch, auch in anderen Städten fanden Demonstrationen statt. Wie sah die Demo in Moskau aus? Ungefähr so. Ein Liveblog hatte sogar die Boulevardzeitung „Moskowskij Komsomolez“ und hier gibt es ein Video von der Chodorkowski-NGO „Open Russia“. Die Menschenmenge hat es sogar in die Abendnachrichten des Staatsfernsehens geschafft – immerhin eine halbe Minute ohne O-Töne oder putinkritische Plakate.
In Nischni Nowgorod, der Stadt, in der Nemzow als Gouverneur wirkte, marschierte sogar der Bürgermeister Iwan Karnilin mit – wohl als einziger amtierender „Einiges Russland“-Politiker russlandweit. Nicht schlecht, vor allem angesichts der Tatsache, dass seine Parteikollegen in der Duma sich weigerten, eine Gedenkminute für Nemzow abzuhalten. Tatsächlich machten bei der Gedenkminute nur zwei Duma-Abgeordnete mit – Dmitri Gudkow und Iwan Gratschow, beide fraktionslos und ehemalige Mitglieder der Partei „Gerechtes Russland“.
Nun, der Marsch. Nicht alle waren von den Gedenkaktionen restlos begeistert. Die feministische Publizistin Bella Rapoport etwa schrieb:
„Schade, dass Demonstrationen gegen Gewalt gegen Frauen nicht so viele Teilnehmer haben, schließlich werden bei uns öfter Frauen ermordet als oppositionelle Politiker.“
Klingt provokant. Aber liegt sie falsch, die Rapoport? Ich finde nicht. Natürlich hat ein Mord an einem, nun, männlichen charismatischen Oppositionellen für die Öffentlichkeit eine andere Bedeutung als ein „ganz normaler“ Mord – aber Mord bleibt eben Mord. In Russland stirbt alle 40 Minuten eine Frau durch häusliche Gewalt. Und vielen russischen „Liberalen“ – auch Frauen! – ist das absolut egal.
Andere, wie der Publizist Maxim Gorjunow, mokierten sich über die Alterskategorie 50 Plus, die den Marsch dominiert habe und ließen… hmmm… Zweifel an dem Sinn der Veranstaltung durchblicken. Eine kleine Abweichung von der genehmigten Route, vorbei an den „unterernährten Jungpolizisten“ – und schon könnte man „Probleme lösen – mit der Krim, mit den Sanktionen, mit der Propaganda, mit allem, was du willst.“ Kaum überraschend, beim Gedenkmarsch dachte niemand daran, den Kreml zu stürmen.
„Die Schlussfolgerung: Sie gingen auf die Straße, nicht um ein Problem zu lösen, sondern um ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Und die zeigten sie. Die Welt sah – sie sind unzufrieden. Das Problem bleibt bestehen, die Unzufriedenheit wurde gezeigt – und alle sind zufrieden.“
Das mag etwas zynisch klingen, Gorjunow liegt aber nicht ganz falsch. Gut, die russische Opposition ist immer noch in der Lage, 20.000 Menschen im Zentrum Moskaus auf die Straße zu bringen. Aber was anfangen mit diesen 20.000? Sie gehen – wohin? Wofür? Beim Gedenkmarsch gab es viele zufriedene Gesichter, es wurde viel gelächelt. War Gedenken wirklich der Antrieb? Oder die Aussicht auf das gute Gefühl, gefahrlos und ohne konkrete politische Forderungen – solange man die ewigen „Weg mit Putin!“-Rufe nicht als politisch verbucht – durch Moskau spaziert zu sein?
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.