Heute ist der 7. März 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: ein paar Randnotizen zum Stalin-Todestag und den Reaktionen im russischen Internet.
Ich weiß wirklich nicht, was dieses Jahr in die Russen gefahren ist. Am 5. März jährte sich der Tod Stalins zum 63. Mal. Ja, Stalin ist tot. Seit 63 Jahren. Im letzten Jahr war sein Tod kein großes Thema, vermutlich wegen der Ermordung Nemzows. Aber dieses Jahr: all Stalin, all the time, auf allen sozialen Kanälen. Ich habe so einige begeisterte Statements gesehen. Es feiern die „Liberalen“ – „Stalin ist Scheiße“, schreibt der Journalist Alexej Kowalew, „gut, dass Stalin krepiert ist“, meint sein Zunftkollege Leonid Ragosin. Derweil äußert ein Duma-Abgeordneter sehr unberechtigte Zweifel an dem Ausmaß der Stalin-Repressionen. Gutes Timing, Herr Nossow! So kommt man in die Online-Nachrichten, und sogar in einen deutschsprachigen Newsletter! Und dann: Das Nachrichtenportal „Meduza“ unterzieht Nossows Äußerungen prompt einem „Faktencheck“.
Spätestens jetzt weiß ich nicht, ob ich weiterlesen soll, oder mich besser sämtlicher internetfähiger Geräte entledige, durch Defenestration. Also, ich fasse zusammen: Die einen beglückwünschen einander zum Tod eines sowjetischen Diktators, der Jahrzehnte vor ihrer Geburt den Löffel abgab, die anderen zweifeln an seinen Menschenfresser-Qualitäten, und dann gibt es welche, die dazu einen Faktencheck machen. Einen Faktencheck! Was läuft eigentlich falsch in dieser Gesellschaft? Hatte Stalin nicht auch seine Vorzüge? Müssen wir sein Erbe nicht kritisch würdigen? – es gibt hier tatsächlich Menschen, die solche Fragen stellen. In der Provinz gibt es sogar neue Stalin-Denkmäler. Russland steckt fest. Die Stalinapologeten auf der einen Seite, die Stalinhasser auf der anderen. Dass diese Doppel-Perspektive den Blick auf die Sowjetvergangenheit und die Aufarbeitung des Kommunismus versperrt, scheint niemanden zu interessieren. Den Stalinmythos halten auch die Stalinhasser aufrecht, das nervt höchstens ein paar Historiker.
Und die Stalinhasser? Sie empören sich genüsslich über Menschen, die an Stalins Grab an der Kremlmauer Blumen niederlegten (FOTOS). Darunter waren einige Zeitgenossen, die nicht einmal Gorbatschow im Amt erlebt haben, von Stalin ganz zu schweigen. Einige bekreuzigen sich, schließlich war Stalin ein großer Freund der orthodoxen Kirche. Er ließ ja nur 500.000 Russen wegen ihres Glaubens einsperren oder erschießen. Hätten ja mehr sein können. Und sie bekreuzigen sich doch, die Stalinfans. „Was für eine Schande“, meint der nationalistische Publizist Egor Proswirnin. Andere sehen in der Niederlegung der Blumen gar eine zentral geplante Aktion. Aber was tut das zur Sache?
Das symbolische Gegenstück zur Nelkenniederlegung war ein Plakat, das jemand in der Nähe des Moskauer Pawelezki-Bahnhofs anbringen ließ – es zeigt Stalins Totenmaske mit den Worten „Dieser da starb, und der da wird auch sterben“ – natürlich eine Anspielung auf Wladimir Putin. Was das soll? Eine mutige Aktion, die von der Schwäche der russischen Opposition zeugt, meint der anarchistische Blogger Alexander Wolodarski. Wer auch immer für dieses Plakat verantwortlich ist, wünscht Putin einen natürlichen Tod im hohen Alter. Stalin musste sich nie für seine Taten verantworten. Soll dieses Schicksal also auch Putin ereilen? Will das die russische Opposition? Aber da sind wir wieder beim Stalinkult. Was für einen Unterschied macht eine Personalie, wenn das ganze System verbrecherisch war?
„Stalin, der Dämon und Menschenfresser, ist ein Produkt der kommunistischen Propaganda“, schreibt der Blogger Nikolai Nikiforow.
„Stalin als eine Fokussierung des Bösen wurde für einen einfachen Zweck ausgedacht – nicht nachdenken müssen, „was mit uns geschah“, und einfach weitermachen. Weshalb Chrustschow nicht nachdenken wollte, ist verständlich – die strahlende Zukunft stand bei ihm vor der Tür, und jetzt denkt man nicht nach, weil man sich lange dran gewöhnt hat, so scheint es. Natürlich wiederholt sich dieses Szenario: Es gab den schrecklichen Stalin, der Lenins Erbe verriet, jetzt gibt es den schrecklichen Putin, der Jelzins Erbe verriet. Warum ein Jelzin einen Putin gebiert, das ist eine schwierige und langweilige Frage. Wozu sich damit befassen? Besser richtet man einen Strahl des Hasses auf einen Punkt und hofft auf eine neue, bessere Tyrannei.“
Nieder mit dem Stalinkult, liebe Leserinnen und Leser.
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.